Liebes Archiv...Einträge vom Oktober 2005

In polnischem Luftraum.

Der Mann am Kaliningrader Flughafen hatte nicht gelogen, als er sagte, daß 15D der beste Platz in der mickrigen Propellermaschine sei, die Aussicht auf die Kurische Nehrung, Selenogradsk (wo ich gestern noch vom Strand Abschied genommen hatte), das Frische Haff, Baltisk und polnisches Wasser war super, die Scheiben des Flugzeugs hätten nur etwas besser gewienert sein können. Doch schon kommt die Weichsel ins Bild - tata! - Landefüße ausgefahren! Gerade schwebten wir noch, jetzt sitze ich schon am Flieghafen, und bin auch noch im Internetz, mann, wie in Westen! Aber jetze schnell wieder raus hier.

[]Warszawa / Montach, 31. Oktober 2005

Rückzug! Die Brücke über den Kwai, äh Pregel.

Jeden Morgen und Abend rumpeln wir hier rüber, jedes Mal mahnen die Absprungrampen der zweiten Spur. Nein, es ist keine Zugbrücke, es ist das Überbleibsel des deutschen Rückzugs im letzten Krieg, nur eine Seite der Brücke spannt sich wieder über die zwei Pregelarme und das unendliche Schilf. Seit zwei Monaten versuche ich, während dieser Rumpelei am Morgen, wenn die Sonne gerade aufgeht, ein gutes Foto zu machen, keine Chance (Vorsicht, Augenkrebs!). Draußen ist es nun empfindlich kühl geworden, die Heizsaison hat begonnen, im Büro schwitzen wir, weil der einzige Regelungshebel der Fensterknauf ist. Und plötzlich ist alles vorbei, heute ist der letzte Tag und wieder so unwirklich. Nach dem Wochenende ist Heimreise angesagt...Wollmäuse nehmt euch in Acht!

[]Kaliningrad / Freitach, 28. Oktober 2005

Danke, liebe Musikindustrie!

Ja, zugegeben, ich schreibe unter Einfluß legaler Drogen, ist ja auch schon spät jetzt, da ich gerade versuche meine LEGAL GEKAUFTEN CDs in MP3 zu übersetzen, ich rede von der und der, hab sie leider noch nie gehört (außer mal kurz vor dem Kaufen), weil mir der verf***te externe CD-Abspieler fehlt, der sich NICHT um Kopierschutz schert. Muß ich jetze ILLEGALE Kopierschutzumgehungsweichware aus dem Internetz zerren, damit ich endlich in den Genuß der ehrlich erworbenen Musik komme, oder was??? Ich krieg 'n Hals! Das sieht vielleicht aus! Kann man heutzutage wirklich noch CDs verkaufen, die so einen offensichtlichen Makel haben? Ja, an Trottel wie mich, die immer wieder gutgläubig ihr schwerverdientes Geld für nutzloses Zeug hinblättern, statt zu Google zu googeln und sich den Scheiß einfach von irgendwo runterladen. HASS! Doppel-Ultra-Mega-Giga-Tera-HASS!

[]Kaliningrad / Mitttwochaaabend, 26. Oktober 2005

Nicht pfeifen, sonst gibt's kein Geld!

Jedes Mal, aber wirklich jedes Mal geht der mittelalte Dolmetsch mir mit diesem Spruch auf den Zeiger, sobald ich anfange ein Liedlein zu zwitschern. Ein Land ohne Pfeifen? Offenbar. Aber ich bin trotzig, rolle nur mit den Augen, die sind schon ganz rund, wir lassen uns das Pfeifen nicht verbieten, hollahi-hollaha-dideldum-fallera! Von den anderen, ewig selben, auf mich einprasselden Phrasen habe ich kurioserweise nur 'Über Geschmack läßt sich streiten' parat. Das russische 'Der dumme Kopf läßt die Beine nicht in Ruhe' für unser 'Was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben' finde ich sehr witzich.

[]Kaliningrad / Mitttwoch, 26. Oktober 2005

Buntes Treiben.

Niemand hört sie, die Schmerzensschreie, wenn der anstandslose Wind die Bäume nackig macht und das bunte Laub auf den harten Asphalt schmettert, niemand, wirklich niemand kümmert sich um die Leiden der Blätter. Verschämt decken die bereits niedergestürzten Genossen die Flüche und Schmähungen mit ihrem lauten Rascheln zu, verschworen mit dem Wind, der sie umhertreibt, vor die Füße der Menschen, die hier wie die Scheibenwischer heißen und das alles auffegen müssen. Ein Windstoß und die nächste Ladung farbenfroher Arbeit segelt herab. Da braucht man Nerven wie Drahtseile.

[]Kaliningrad / Montach, 24. Oktober 2005

Schmeiß den Riemen uff die Orjel!

Kultur! Ein durchscheinendes Stück Butterbrotpapier ist unsere Eintrittskarte in die Welt der Orgelmusik, Location* ist die ehemalige Kirche zur Heiligen Familie, die zum Konzertsaal umgeweiht wurde. Beste Plätze in der zweiten Reihe, die erste ist leer, niemand wird uns die Sicht auf die Stage versperren, die Veranstaltung das Event ist gut besucht, der Saal beheizt, aber etwas fußkalt. Die gebildete Dame auf der Bühne DJane gibt macht eine kleine Einführung Intro und BÄNG! - ab geht die Luzie!
Gleich der erste Hit ein Volltreffer! Schauerliche Erinnerungen an Dr. Phibes und spätabendliches Fernsehen werden wach - dadada-dadadadadaada! Der Schlüsselbrettspieler Keyboarder haut in die Tasten der Stalinorgel, sein Kopf hämmert in die Luft head is am bängen, die Haare fliegen, alles live, kein Playback, gnadenlos geht es die Charts des achtzehnten Jahrhunderts rauf und runter. Mein Dolmetsch ist schon so erschöpft down, daß er leise schnarcht, während sich mitten im Gig zwei Quasseltanten Chatter neben mir niederlassen. Der Orgelmann zieht alle Register, der Saal tobt - Halleluja! - jedoch unhörbar für das menschliche Ohr. Ich warte auf das Beben die Vibes, die Grooves, die die megadeaths Verblichenen aus der Gruft treiben, doch der Mann an den Elfenbeinen holt nicht alles aus Blechkiste raus, er spart noch was für die Zugaben auf, denke ich, aber das rhytmische Klatschen die sitting ovations der Groupies sind vergeblich. Da geht noch mehr.
*Achtung! Der Beitrag ist vorsätzlich mit Anglizismen gepimpt.

[]Kaliningrad / Freitachabend, 21. Oktober 2005

Miau.

Ja, an meiner Kamera kann man anwählen, daß die Objekte in der Nähe gestochen scharf werden, aber soviele Einstellungen, die ich probierte, um das beste Bild zu schießen, haben das Miezekätzchen irgendwann genervt, ich konnte Kamera und Finger aber noch rechtzeitig vom Gitter zurückziehen, bevor sie mich zu fassen bekam. Die anderen Zootierchen gehen viel geruhsamer in den Herbst, doch Schneeleoparden warten natürlich auf: A) Graupel; B) Schnee; C) Regen; D) Hagel? Die 16000-Euro-Frage, alle Joker schon verspielt, Günter guckt schon ganz entnervt...

[]Kaliningrad / Ein Samstach im Oktober 2005

Isch krisch ne Kriese!

Jetzt hab ich zwei Bier intus und gerate daher etwas leichter in Wallung, allabendlich, wenn ich wiedermal zu unkonzentriert bin um mich meinem Buch zu widmen, schalte ich die Scheißglotze ein, ich werd' zum Elch, wenn der bekloppte Elton da rumhüpft, wenn ich diese bescheuerte Pro7-Werbung sehe, ich kann dieses verlogene Powerade-Nashorn, die geile Claudia Bertani mit ihren knackigen Piemont-Kirschen und den Ballack im McDonalds-Restaurant nicht mehr ab, ich krieg dat Kotzen, verdammt! Schwäbisch Hall gibt zu, schon seit Jahrzehnten Menschen in Wohnklos mit Kochnische gepfercht zu haben, Somat 3Plus1 heißt jetzt ENDLICH Somat 5, der unrasierte Jevermann fällt immernoch kompromißlos besoffen hintenüber in die Düne, die lustigen Lockenköpfe sind nicht mehr bluna sondern völlig bambuuutscha, Promi-Hinz und -Kunz lieben es so einnehmend ehrlich wie auch überschwänglich uns zu unterhalten - Hilfe!!!

[]Kaliningrad / Donnerstachabend, 20. Oktober 2005

Mir war eben danach.

Der Himmel drückt in 8bit-Graustufen von oben runter. Die Glatze juckt. Hab ich vielleicht das falsche Waschmittel benutzt? Mein größtes Körperteil (nee, nicht das und auch nicht das, sondern das) erfreut mich seit einiger Zeit mit spätpubertären Gemeinheiten. Das sind aber nur zwei der unzähligen Annehmlichkeiten einer beruflichen Reisetätigkeit mit regelmäßigem extremem Klimazonenwechsel - aber man will ja nicht klagen, ne.
So ließ ich heute, einer plötzlichen Eingebung folgend, etwas Wasser in die weiße Keramik (diesmal in die größere der drei), tat ein paar Tropfen kostbaren Teebaumöls hinzu und begab mich hinein.
Nur Superreiche oder Pygmäen haben die nötigen Voraussetzungen und können in einer Wanne alle fünfe gerade sein lassen, ich hingegen kann nicht alle Körperteile gleichzeitig faltig bekommen, auch wenn ich einige davon wie ein Verrenkungskünstler falte, is eben nich wie bei Königs hier. So muß ich mir am Anfang überlegen, wer zuerst einweichen darf, nach ausführlicher Diskussion unter allen Beteiligten sind es wie gewöhnlich die unteren Extremitäten, die zuerst wieder an die Luft müssen. Weisen also die Füße diese sich unangenehm anfühlende gewölbte Oberfläche auf, dürfen sie auf dem Rand der Weißware in ihre frühere Form zurückfinden. So habe ich mich mit den Umständen arrangiert, schließlich ist es viel hygienischer und sicherer, daß ich keinen echten Blubberteich habe, ich mach die Blasen viel besser selbst. In Hörweite habe ich meinen vielseitigen Armenviertelbeschaller aufgestellt, Carla Bruni paßt ganz gut. Zum Glück bin heute nicht so erschöpft, daß ich einnicke und einer Panik nahe fröstelnd mit verwelktem Körper aufwache - das wird mir im Alter noch oft genug passieren!
Der Farbe des Wassers nach zu urteilen, war das Abseifen nicht zu früh angesetzt, das tolle Männerduschbad brennt auch so wie die Werbung gesagt hat. Zeit, das Handtuch zu suchen - ja wo isses denn? Ach ja, hier. Jetzt rubble ich die freigesetzten Hautschüppchen und das ganze Etcetera mit dem weißen Baumwollstück runter, schleife alles glatt wie ich es in der Lehre gelernt habe - ja, eine deutsche Berufsausbildung ist die Basis eines erfolgreichen Lebens! Es wäre nun beste Gelegenheit, die verkrüppelten Zehennägel zu stutzen, aber wer will das schon? Passen dann die Schuhe noch? Ich spüle stattdessen das Badmöbel aus, gelernt ist gelernt (einen herzlichen Dank an die Eltern des Jungen), auch wenn die Putze bis zur Steinzeit und zurück bei mir in der Kreide steht, weil sie mein Honigglas - ein Geschenk und Bestes vom Lande - beim Zukleben der Fenster für den Winter (!!!) runtergepfeffert hat.
Jetzt ist es wichtig, den Körper nicht auskühlen und den gelungenen Beitrag nicht zu lang werden zu lassen (die wenigsten der geschätzten Leser werden es bis hierher geschafft haben), also Socken an und so, ein Buch in die Hand und nicht die Glotze anschmeißen, wo es eh nur Scheiß-Proll7 gibt! Und kein Internetz, doooh! Aber schlußendlich noch ein Vorteil des Alleinreisens, niemand gibt die Steilvorlage für den steinkohlealten Witz: 'Hey, sach mal, haste ein Bad genommen?' - 'Wieso - fehlt eins??'

[]Kaliningrad / Mitttwoch, 19. Oktober 2005

Wageteufel.

Bo ey, jetzt hab ich ganz allein auch noch die erste Straßenbahnfahrt gewagt, schauder, Linie 4, abends, rumpeldipumpel, für acht Rubel, nach dem fotografisch kollossal einträglichen Besuch am Hafen. Der Herbst ist doch eine brontal besondere Jahreszeit, wo die Mama Natur noch ohne E153 und E-wasweißich unschlagbar eindrucksvolle Farben an Himmel und Bäume zaubert. Auch wenn ich der Sonne abends atemlos hinterherhechten muß, beschert ihr Untergang so eindrucksvolle Bilder, daß der Sommer dagegen ziemlich blaß aussieht. Und das werde ich beweisen. In Bälde.

[]Kaliningrad / Dienstach, 18. Oktober 2005

Noch 'ne Schwester - Eppelklau in Preußisch Eylau.

Oh Mann, es kostet bannich Geisteskraft, mich an den vergangenen Samstach zu erinnern, soviel ist schon wieder passiert, an das ich mich auch nicht erinnern kann. Wie wir die herbstlichen Alleen entlanggebrettert sind, um wiedermal einem 'geschichtsträchtigen' Ort unsere Aufwartung zu machen. Meine Enttäuschung hält sich mittlerweile in Grenzen, wenn die Stadt als einzigen Anziehungspunkt eine neugebaute Kirche aufweist. Doch hier haben einst vereinte preußische und russische Truppen den napoleonischen erstmals Einhalt geboten, zum Dank darf die Stadt sich jetzt nach dem damaligen Verteidiger, General Pjotr Bagration, nennen. Ja, äh, und Apfelbäume gibt es unzählige, höchstwahrscheinlich Erbe aus vorsozialistischen Zeiten, verwilderte Gärten, ist kein Zaun drum, kann man getrost ernten, in diesem Jahr ein besonders einträgliches Tun, die Bäume hängen voll wie - also wie - keine Ahnung, ziemlich voll jedenfalls. Die kleinen roten Äppel sehen aus wie aufgeblasene Tollkirschen, schmecken richtig äpfelig, gibt es bei uns noch soviele verschiedene Sorten??? Diese zierlichen intensiv natürlichen Kraftzwerge? [Den Tieren im Zoo schmecken die auch vieeel besser als das Kack-Weißbrot]. Den Bericht vom darauffolgenden Sonntag, der mit Regen begann und gemeinerweise mit Sonnenschein abschloß, als auch der Tagesausflug zuende war, behalte ich erstmal für mich, so. Die Fotos waren natürlich dementsprechend farbenfreudig.

[]Bagrationowsk / Samstach, 15. Oktober 2005

Am Hafen.

Kaum im Hotel, werfe ich meinen Sack mit einem Ruck ab, fische die Kamera raus und mach mich auf den Weg zum Hafen. Gnadenlos rennt die Sonne den Himmel runter, noch schneller als gestern, wer soll da hinterherkommen!? Schon ist das Abendrot da, aber viel zu kurz. Die Lichter gehen an im Hafen, erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, schon liegt ein Glanz auf dem Revier. Und kühl wird's, noch kleben die Fingerkuppen nicht am Metallgehäuse der Kamera, aber das Jäckchen zieh' ich ein bißchen zu, als ich den Weg zur Haltestelle antrete, um meine erste Straßenbahnfahrt zu vollziehen.

[]Kaliningrad / Freitach, 14. Oktober 2005

Überlebensmittel.

Jeden verdammten Morgen kommt die kreuzlahme Sonne weniger weit über den Horizont hinaus, ihr Ächzen ist ja fast spürbar, näher rückt der Scheißtag, an dem sie es garnicht mehr schafft, das kann schon morgen sein! Unversehens wird's dann immer finsterer, bis es eines Morgens Nacht ist und ich im Dunkeln tappe. Die allseits gefürchtete Zeit, im Dustern gehen und im Dustern wiederkommen. Alles schwarz. Hilfe!
Und da kommen die braunen Blöcke ins Spiel. Wo wären wir denn, gäbe es nicht die Kakaobohne und hätten die braven spanischen Eroberer sie nicht für uns gefunden? Und was wäre, gäbe es nicht die Konditorische Fabrik in Moskau, die Polarexpeditionen mit der Hochprozentigen vor dem Aufgeben bewahrt (rechts) und staubige Luftschokolade zum Siegesfeiertag (links) auf den Markt schmeißt? Wer braucht da noch lila Kühe?

[]Kaliningrad / Donnerstach, 13. Oktober 2005

Meine Fresse, heute abend passiert's.

Na eigentlich juckt mich ja nicht, wenn es andere kratzt, aber wenn's mich juckt, weil's kratzt, dann isses was anderes. Und heute geht der Bart ab, wenn man das Fusselzeug denn so nennen kann. Ein richtiger Urwald wird das in hundert Jahren nicht, und als ich mir am Abend nach meiner ersten, spontan einberufenen Yogastunde lustvoll mit der Zunge weit über die Oberlippe fuhr, schmeckte ich in meinen Barthaaren die Reste irgendeines süßen Mahls, einer stundenalten Sünde, und dachte nee, nee dachte ich da, nee, jetzt isses Zeit, bevor sich Spinnen und Vögel ungefragt einnisten und da immer Radau ist wie im Hühnerstall, besser 3-2-1-weg! Is doch nix! Lieber einen gepflegten Kurzhaarschnitt (links im Bild), wie der Mann von Welt es trägt. Und dabei hatte ich mir den ganzen Tag überlegt, wie ich gestörte Kinder, die eineinhalb Liter Cola täglich trinken und die Tatsache, daß Botox wider Erwarten nicht gegen Kopfschmerz hilft, in einen Eintrag bringe, das geht hier nämlich jetzt unter, hier hinten am Ende. Ganz zu schweigen vom mürbe gequatschten zukünftigen Ex-Kanzler. Und den Belemniten. Es gäbe soviel zu erzählen. Tja. Soll wohl nicht sein.

[]Kaliningrad / Montach, 10. Oktober 2005

Kleine Schwester.

Während viele alte Kirchen im Gebiet zerfallen oder zweckentfremdet werden, wachsen an verschiedenen Orten weiße Abbilder der Kaliningrader Kathedrale heran. Gut, wenn man einen Platz hat, der in schweren Stunden Trost spendet. Dieses Exemplar ist die offensichtlich einzige Zierde von Polessk, einem tristen Ort nahe des Kurischen Haffs.

[]Polessk / Sonntach, 09. Oktober 2005

Lange Schatten.

Heute war ich auf der Jagd nach der Sonne, die wie ein alter buckliger Sack dem die Krücken gestohlen wurden, nicht mehr hinter der Steilküste hochkommt. Schatten über Swetlogorsk. Doch damit wollte ich mich nicht zufrieden geben, ich wollte dahin wo die Sonne scheint, hinter der nächsten Biegung mußte sie sein, also los, weiter und weiter, über Schwanenscheiß und Sand und Stein, doch sie war nicht zu fassen. Dann passierte es, ein unachtsamer Schritt, ein glitschiger Stein und - platsch - krebste ich wie bei diesem lustigen Gesellschaftsspiel auf allen vieren mit den Füßen im Wasser, die Schwäne und Kormorane guckten doof, die Ente lachte mich aus von ferne, feige Sau. Es war ja sowieso Zeit umzukehren, irgendwie, auch trocknete keine Sonne meine Socken. Zurück in der Zivilisation, wo wohlmeinende Dummköpfe wieder ihr Weißbrot an die schreienden Möwen verfütterten, hatte sich die liebe Sonne an einem Stück Strand eingestellt, dort drängten sich die Tagestouristen und lechzten nach den goldenen Strahlen. Ich entledigte mich meiner qualitativ hochwertigen und teuren Schuhe als auch der billigen Socken und legte alles zum Trocknen aus. Derweil schrieb ich das nutzlose Zeug nieder, das als Grundlage für dieses Gefasel diente. Die Düsenflieger hatten ihren Spaß, Streifen an den blauen Himmel zu schmieren, ein letzter wagemutiger Schwimmer stürzte sich in die Fluten.
Die Schatten wurden länger und Socken etwas trockener - Zeit für den Rückzug.

[]Kaliningrad / Samstach, 08. Oktober 2005

Feierabend.

Erschöpft zieht sich die Stadt ins Wochenende zurück. Während für einige der Kampf ums tägliche Brot nicht aufhört, gehe ich auf einen Stadtspaziergang, die Sonne spielt ihr Spielchen mit Fensterscheiben und dem goldenen Dach der Kathedrale, bis sie - viel zu früh schon - hinter den Häusern verschwindet. Die Bierflaschen recken die Hälse aus dem mit Entengrütze bedeckten Teich, der Verkehrslärm erstickt hinter den sich verfärbenden Bäumen. Die schmale weiße Mondsichel wagt sich in den pastell-roten Himmel und schaut zu wie alles Tageslicht verglimmt. Klappe. Schnitt. Feierabend.

[]Kaliningrad / Freitach, 07. Oktober 2005

Rucksackberliner.

Wem ist der Begriff kein Begriff!? Das inoffizielle Unwort des Jahres 198X war im real-sozialistischen Berlin bekanntlich Teil unseres täglichen Sprachgebrauchs. Einst die mißgeliebten Sachsen oder andere Zugereiste bezeichnend, die unsere Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik als ihr neues Zuhause erkoren hatten, endlich Westfernsehen und echte Bananen, hat die Vokabel in den letzten 15 Jahren etwas an Bedeutung eingebüßt. Eingestaubt dämmert sie in der historischen Rumpelkammer - Willi Schwabe räumt nicht mehr auf. Niemand im Beitrittsgebiet des Wirtschaftswunderlandes wird meines Wissens noch bezichtigt, die guten Spreewaldgurken oder Kuba-Orangen der lokalen Konsumkette zur Versorgung der darbenden Landbevölkerung zu entziehen.
Abgewandelt findet der Term nun zurück in die deutsche Sprache, transplantiert in einen pulsierenden Satelliten Rußlands des Jahres 2005, wo sich Rucksackkaliningrader aus der ganzen Föderation niedergelassen haben. Und die Welt dreht sich hier offensichtlich so schnell, daß ihnen keine Zeit bleibt, das neue Revier auszubaldowern. So kann es passieren, daß man an einer Bushaltestelle im Stadtzentrum erst fünf schulterzuckende Wartende fragen muß, wo der Bus Nummer 28 fährt, um vom sechsten eine falsche Anwort zu bekommen. Hat man nämlich an der zugewiesenen, nächsten Haltestelle zehn Minuten gestanden und fragt erneut ein halbes Dutzend Umstehende, kommt heraus, daß diese Buslinie dort nicht verkehrt. Verläßliche offizielle Informationen zur Linienführung werden nur Eingeweihten zuteil, Fahrpläne sind geheime Verschlußsache, man sagt sogar, es gibt garkeine. Dafür knöpft die resolute Schaffnerin jedem auch nur 10 Rubel, momentan etwa 35 Cent, ab, egal wohin.
Wer erinnert sich nicht noch an die Zeit, als man für 20 Pfennig mit einem von drei Mäusezähnchen durchbohrten grüngestreiften Altpapierfahrschein ganz Berlin durchreisen konnte! Diese (n)ostalgisch verklärten Erinnerungen machen obige Kümmernisse zu einer mentalen Reise in die Vergangenheit. Mit einem Augenzwinkern und einem gesummten 'Those were the days my friend nananananana...' (die Melodie ist angeblich russischen Ursprungs) auf den Lippen kann das Thema einfach weggelacht werden. Hier gehen die Uhren eben noch anders.

[]Kaliningrad / Mittwoch, 05. Oktober 2005

Börnesteen.

War schon etwas empört, als ich las, daß man in Indien das, was hier mühselig aus Tagebauen gezerrt und von Stränden gefischt wird, auf Altaren zu nutzlosem Kolophonium verbrennt um Weihrauch zu sparen und schnödes Aroma zu gewinnen! Und ich riskiere Augenkrebs um die kleinen Futzel vor dem Ertrinken zu retten! Naja, ich las etwas weiter um zu erkennen, daß ich mir keine Sorgen hätte machen müssen, da der Stoff in Salzwasser schwimmt! Tja! Wer jetzt noch nicht gecheckt hat, worum es geht: es ist Brennstein, und nur die Römer kamen ihm halbwegs auf die Schliche und nannten ihn succinum (Saft). Börnen ist dann niederdeutsch (<brennen) und wenn's auch nicht echt wirklich Stein ist, brennen tut das Zeug.
Und weiter kann ich mich jetzt nicht konzentrieren, weil Scary Movie im Fernsehen läuft.

[]Kaliningrad / Montach, 03. Oktober 2005

Ne Draußenstadt.

Ja, das Kenig is ne Draußenstadt, hier kauft der junge Mensch mal schnell ein Bier an einer der Buden, die 24 Stunden offen haben und setzt sich mit der ganzen Bande in einen Park, auf einen Platz - die Möglichkeiten sind ja zahlreich, sabbelt 'n bißchen, was auch immer, Hauptsache nicht nach Hause, fragt sich nur was die jungschen Leute machen sollen, wenn das Wetter beschissen wird?! Man will ja garnicht dran denken, du!

[]Kaliningrad / Sonntach, 02. Oktober 2005

...und hier geht's weiter in die Vergangenheit.